Sonntag, 19. Mai 2013

Man nehme








»Man gebe mir ein Dutzend gesunder Säuglinge und eine von mir gestaltete Umwelt, um sie aufzuziehen, und ich würde garantieren, dass ich jeden trainieren könnte zu jeder  beliebigen Spezialität  - Arzt, Anwalt, Künstler, Händler und, ja sogar Bettler und Dieb, unabhängig von seinen Talenten, Tendenzen, Fähigkeiten, Berufungen und der Rasse seiner Vorfahren. Ich gebe zu, dass ich hiermit mein faktisches Wissen überschreite, aber genau das tun auch die Vertreter der gegenteiligen Meinung seit vielen tausend Jahren.« (John B. Watson, 1930, S. 104; Übersetzung Asendorpf, Persönlichkeit S. 30)  
Beachtlich, was hochintelligente Leute seit Platon an Blödheiten abgesondert haben. Ohne wissenschaftliche Verbildung wären sie vielleicht so klug gewesen, aus der Beobachtung anderer Tiere auf das Verhalten des Menschen zu schließen. Watson teilt hier, grob betrachtet, die Vorstellung des Empiristen John Locke (1632-1704), der in seinem “Versuch über den menschlichen Verstand” die Erfahrung als Quelle der Geistesinhalte angab. Den Geist nannte er ein unbeschriebenes Blatt, was den kognitiven Psychologen Stephen Pinker zu seinem bekannten Buchtitel verhalf. Locke betrachtete die frühen Erfahrungen als besonders wichtig, und das tat auch der ebenfalls hochintelligente Psychosektierer Freud. Seine Jünger und Schüler verdrängten in den 1960er Jahren die Behavioristen. Pinker faßt zusammen:
“ Die Freudianer theoretisierten, wir würden von unserem Erfolg beim Entwöhnen, von der Sauberkeitserziehung und der Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil geprägt, und rieten Eltern, Säuglinge nicht in ihr Bett zu holen, weil das schädliche sexuelle Wünsche wecken würde. Alle spekulierten, daß psychische Störungen den Müttern angelastet werden könnten: Autismus ihrer Gefühlskälte, Schizophrenie der ‘Doppelbindung’ oder Beziehungsfalle, Magersucht dem Perfektionszwang, dem sie Mädchen unterwarfen. Geringe Selbstachtung wurde ‘toxischen Eltern’ zugeschrieben und jedes andere Problem ‘dysfunktionalen Familien’. “
Man darf hinzufügen, daß die Freudianer kaum eine Idiotie ausließen. Aus der Herde brachen wenige Autoren aus, die sich mit der Frage beschäftigten, warum Kinder in der gleichen Familie so unterschiedlich seien (Robert Plomin, Denise Daniels, Thomas Bouchard, Sandra Scarr, David Lykken, David Rowe, Judith Rich Harris etc.) An sie schließt auch Pinker in seiner breit angelegten Untersuchung an. Man kann dem Buch nur viele Leser wünschen.
Aber in der Wissenschaft wie überall sonst auch regieren Moden. Pinkers Wirkung im großen Publikum ist beachtlich, aber seine Beachtung in den Medien dürfte vor allem mit seinem attraktiven Aussehen und seinem gewandten Auftreten zu tun haben. Daher muß man nicht nur den Hochintelligenten in der Wissenschaft mißtrauen, sondern auch denjenigen, die von den Medien ausgesucht und als Wissenschaftler präsentiert werden. Alle Wissenschaft, nicht nur die Müllwissenschaft der Behavioristen und Freudianer, bedarf der peniblen Plausibilitätsprüfung und der anhaltender Skepsis. Politikern und Wissenschaftlern darf man nichts ohne Doppelprüfung abnehmen. Im Zweifelsfall, also im Normalfall, die nächsten zwanzig Studien zum Thema abwarten.