Sonntag, 8. Juni 2014

Man weiß es nicht


An solchen Tagen kann man dem Schamanen-Geschwurbel kaum entgehen. Es gab aber auch ernstzunehmendere theologische Stimmen, es gibt sie vereinzelt auch immer noch:

Martin Honecker
Predigt über Matthäus 5, 17 – 20. „Eine bessere Gerechtigkeit“
Universitätsgottesdienst Bonn, Hörsaal 1
Nicht nur der Ort dieses Gottesdienstes in einem Hörsaal ist ungewöhnlich. Auch der Predigttext hat es in sich. Die paar Verse gehören nämlich zu den schwierigsten im ganzen Matthäusevangelium. Zudem sind die einzelnen Worte, Logien, verschieden und vermutlich unterschiedlicher Herkunft. Allerdings stehen sie im Evangelium an prominenter Stelle. Sie
sollen nach der Sicht des Matthäus Auskunft geben über die Stellung Jesu zum Gesetz und
zum Judentum. Aber das ist so allgemein formuliert, dass recht unterschiedliche Deutungen
möglich sind. Und dazu nun noch das Stichwort „bessere Gerechtigkeit“. Die Überschrift
stammt von mir, also muss ich mich dazu äußern. Das will ich auch versuchen. Dabei türmen
sich jedoch erhebliche Schwierigkeiten auf, die ich in drei Schritten angehen will.
(1) Da ist zunächst einmal das Wort Gerechtigkeit. Ich habe vor meiner zur Ruhesetzung das
Fach Ethik in der Lehre vertreten. Dabei kommt man am Wort Gerechtigkeit gar nicht
vorbei. In meinen Anfängen als Dozent in Tübingen hatte ich im Fach Ethik zu prüfen.
Einmal stand ein Prüfling im Verdacht, in der Klausur geschummelt zu haben. Mein
Mitprüfer meinte: den müssen wir scharf prüfen; also fragen wir ihn, was Gerechtigkeit
ist. In der Tat, wenn man jemanden fragt, was Gerechtigkeit sei, kann man ihn in
Verlegenheit bringen. Unter Philosophen kursiert die Redewendung: Niemand weiß, was
Gerechtigkeit ist, „nobody knows, what justice is“. Einem mittelalterlichen Papst wird ein
Ausspruch zugeschrieben, mit dem er einem Bescheid gab, der sich über ihn
widerfahrene Ungerechtigkeit beklagte: „Auf Erden gibt es eben Ungerechtigkeit, im
Himmel herrscht Liebe, aber vollständige Gerechtigkeit gibt es nur in der Hölle.“ Es gibt
bislang keine allgemein akzeptierte Definition, was überhaupt Gerechtigkeit ist. Im
Zusammenleben von Menschen, in der Gesellschaft ist das Reden von Gerechtigkeit so
unscharf, wie das Thema Wahrheit in der Wissenschaft. Ein reflektierter Wissenschaftler
spricht doch nicht davon, seine Forschungsergebnisse seien wahr, sondern er sagt
lediglich, sie seien richtig, nachprüfbar, einsichtig, anerkannt. Und einem Richter wird
nachgesagt, er habe einem Prozessbeteiligten auf seinen vorwurfsvollen Ausruf „ich will
Gerechtigkeit“ geantwortet: „hier bekommen sie nur ein Urteil“, d.h. nicht unbedingt
Gerechtigkeit. Wenn ein Urteil so ausfällt, dass die Beteiligten und Betroffenen damit
leben können, dann ist es gut. Deshalb habe ich, je älter ich wurde, desto mehr auf eine
Definition von Gerechtigkeit verzichtet. Natürlich weiß ich, dass es Begriffe, Kriterien
und Theorien der Gerechtigkeit gibt. Dazu kann man viel sagen, aber jeder versteht dann,
warum es so schwierig ist, eindeutig zu sagen, was Gerechtigkeit ist. Man kann folglich
von Gerechtigkeit nur in der Mehrzahl, im Plural sprechen. Dafür gibt es entsprechende
Worte, Äquivalente, wie beispielsweise Gleichheit, Gleichbehandlung, Fairness,
Ermöglichung von Teilhabe, Inklusion. Und es gibt Näherbestimmungen von
Gerechtigkeit, die zugleich Maßstäbe, Kriterien angeben, anhand derer zu bemessen ist,
was gerecht ist. Ich nenne nur exemplarisch: Verteilungsgerechtigkeit,
Bedürfnisgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit,
Teilhabegerechtigkeit, Generationengerechtigkeit. Die Zusätze wie Verteilung, Bedürfnis,
Leistung, Chance, Teilhabe und noch andere mehr sind nicht auf einen gemeinsamen
Nenner zu bringen. Und fügt man noch Adjektive hinzu wie soziale, historische,
ökologische, individuelle Gerechtigkeit, dann wird es noch komplizierter. In den 70er
Jahren meinte man, ein amerikanischer Philosoph habe nunmehr die Theorie der
Gerechtigkeit gefunden. Es wäre dies dann erstmals eine neue Theorie gewesen nach der
das abendländische Denken prägende Konzeption von Gerechtigkeit durch den
Philosophen Aristoteles. Inzwischen gibt es jedoch neue Bücher zu diesem uralten
Thema. Aber darum geht es hier in der Predigt nicht. Ich wollte bloß auf die großen
Schwierigkeit bei der Berufung auf Gerechtigkeit aufmerksam machen. In der politischen
Debatte und Auseinandersetzung ist freilich das Schlagwort Gerechtigkeit nach wie vor  2
sehr beliebt, zumal wenn man noch ein Eigenschaftswort davor setzt und etwa von
sozialer Gerechtigkeit spricht. Häufig ist dennoch nicht klar, was dabei konkret gemeint
ist. Ich ziehe es vor, zu sagen und zu hören, was man im Einzelnen vorschlägt und
gestalten will. Die Studierenden konnte ich freilich nicht mit der Feststellung entlassen
und abspeisen, das Wort Gerechtigkeit sei halt schwierig. Ich habe daher formuliert:
Gerechtigkeit sei Unungerechtigkeit. Das meint: Es gib keine absolute Gerechtigkeit,
aber durchaus eine relative Gerechtigkeit, nämlich als Verminderung und Verhinderung
von Unrecht und Ungerechtigkeit. Das ist schon etwas, nein es ist und wäre sehr viel.
Wenn es in unserer Gesellschaft, auch in der Politik, weniger Ungerechtigkeit, mehr
Rücksicht auf Schwache und Bedürftige, mehr Beteiligung geben würde, dann wäre dies
ein Schritt in die richtige Richtung. Dann ginge es in Richtung bessere Gerechtigkeit.

(2) Damit bin ich beim zweiten Schritt, bei einer weiteren Schwierigkeit. Wie sollen wir
Jesu Wort verstehen: „Ich sage euch, wenn eure Gerechtigkeit nicht die der
Schriftgelehrten und Pharisäer weit übersteigt, so werdet ihr nicht ins Himmelreich
kommen.“ Diese Aussage hat es in sich. Sie stellt eine Provokation dar. Mir selbst ist erst
in den letzten Jahren bewusst geworden, wie stark unser Bild von den Pharisäern durch
das Neue Testament geprägt. Wer jung die Bibel kennenlernte, insbesondere auch das
Matthäusevangelium, der hat eine bestimmte Vorstellung von den Pharisäern. Sie sind
zwar fromm, aber selbstgerecht, spitzfindig, heuchlerisch. Sie sehen auf den
Durchschnittsjuden, auf den Alltagsmenschen herab. Ob dieses Bild zutreffend ist, weiß
ich nicht. Denn außerhalb des Neuen Testaments haben wir kaum Quellen von dem, was
Pharisäer und Pharisäismus zur Zeit Jesu waren. Für Matthäus und seine Gemeinde
jedenfalls bildeten sie eine große Konkurrenz. Nur auf dem Hintergrund einer solchen
Konkurrenzsituation erhält unser Text Kontur. Es geht darum, Gesetz und Propheten zu
erfüllen. Jedes einzelne Jota und jedes Häkchen vom Gesetz soll Bestand haben. Dunkel
ist der Satz: „Wer nun eines dieser kleinsten Gebote löst und die Menschen entsprechend
lehrt, der wird groß genannt werden im Himmelreich.“ Erkennbar geht es hier um eine
Rangordnung. Unklar ist, wodurch und wie diese Rangordnung hergestellt wird. Bei dem
allen geht es um die bessere Gerechtigkeit, und zwar in der frühchristlichen
Auseinandersetzung zwischen einem frommen Judentum und der aus dem Judentum
herauswachsenden christlichen Gemeinde. Aber was sagt dies uns heute? Oft wurde mit
diesen Sätzen eine Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum belegt und
begründet: Also: Christen verfügen über eine höherwertige Gerechtigkeit als Juden. Mit
dieser Überzeugung wurde Jahrhunderte lang eine Diskriminierung von Juden durch Christen begründet. Bis heute belastet dies das Verhältnis von Juden und Christen. Denn
wer für sich beansprucht, er habe eine bessere Moral, der unterstellt heimlich Christen
stünden dadurch Gott näher als Juden. Die Erneuerung des Verhältnisses von Christen
und Juden legt zurecht einen Finger auf diesen wunden Punkt. Ein Überlegenheitsgefühl
oder gar ein Siegesbewusstsein von Christen über Juden ist unangebracht, ja es ist gerade
nicht Ausdruck von Gerechtigkeit. Ebenso fragwürdig wäre auch eine Umkehrung. Das
sage ich in der rheinischen Kirche durchaus bewusst. Die bessere Gerechtigkeit, die Jesus
verkündigt, besteht nicht darin, dass nun Christen zu besonders frommen, gesetzestreuen
Juden werden. In dieser Konkurrenz hätten schon damals vermutlich die Christen mit den
Pharisäern nicht mithalten können. Im Fasten, Almosengeben, in der Befolgung jeder
Vorschriften der Tora, in der religiösen Praxis hätten Christen allemal den Kürzeren
gezogen. Das ist bis heute so.
Die „Gerechtigkeit“ – in Anführungszeichen eines Christen ist nicht besser, höherwertig als
die eines Juden. Sie ist vielmehr anders. Wenn man dieses anders in einem Satz, in einer
Abbreviatur zusammenfasst. Die Gerechtigkeit des Christen gründet nicht auf der Einhaltung
des Gesetzes als Heilsweg, sondern auf dem Glauben, dem Glauben an Jesus Christus. Der so
rätselhafte Satz von einer Gerechtigkeit, welche die der Schriftgelehrten und Pharisäer
übersteigt, erschließt sich letztlich nur, wenn man beachtet, wem dieser Satz in den Mund
gelegt ist. Man kann den Satz für sich betrachtet zweifellos auch anders auslegen. Jedenfalls
geht es um die Praxis des christlichen Glaubens in der Welt. Für Jesus war diese Praxis in seiner Bibel, im Alten Testament vorgegeben und vorgezeichnet Ohne diese Vorgabe, die bis
heute Christen und Juden teilen, gibt es keinen Hinweis auf den Weg der Gerechtigkeit. Aber
Christen folgen auf diesem Weg Jesus Christus und wir sind auf diesem Weg unterwegs in
der Nachfolge Jesu. Christen sollen daher ihr Tun der Gerechtigkeit verstehen in
Entsprechung zur Gerechtigkeit Gottes. Das übersteigt allerdings alle menschlichen
Vorstellungen von Gerechtigkeit.

(3) Damit bin ich beim dritten Schritt. Bislang war von menschlicher Gerechtigkeit, von
Gerechtigkeit unter Menschen die Rede. Der christliche Glaube und das Evangelium reden
ebenfalls von Gottes Gerechtigkeit. Sie benutzen dabei menschliche Worte. Was der Apostel
Paulus und der Reformator Martin Luther dazu geschrieben haben, ist mir bekannt. Paulus ist
freilich nur auf seinem jüdischen Hintergrund, Luther nur auf der Folie seiner Biographie als
Mönch vollständig zu verstehen. Aber was sagen wir heute dazu? Ist Gottes Gerechtigkeit
etwa eine bessere, eine höhere, eine vollkommene Gerechtigkeit? Ich verstehe Zeitgenossen
und Mitchristen, denen der Satz „Gott ist gerecht“ Schwierigkeiten und Unbehagen bereitet.
Die Schwierigkeit ist doppelt begründet. Im einen Fall denkt man beim gerechten Gott an
einen strafenden, richtenden Gott, an einen strengen Richtergott. Viele Bilder vom Jüngsten
Gericht stellen uns eine solche Gottesvorstellung drastisch und drohend vor Augen. Ich
erinnere nur an den Satz, absolute Gerechtigkeit gebe es nur in der Hölle. Ist also die Hölle der Ort, an dem Gott seine Gerechtigkeit bewährt und vollstreckt? Und sollte man dann nicht
lieber von der Barmherzigkeit, von der Gnade und Liebe Gottes reden und darauf hoffen?
Das ist der eine Einwand. Der andere Einwand verweist hingegen auf die Realität auf Erden,
auf schreiende Ungerechtigkeit, auf Bosheit, auf schlimme Katastrophen, unter denen
Menschen leiden, oft grausam leiden müssen. Wie passt diese Wirklichkeit zur Behauptung,
Gott sei gerecht? Kann man angesichts des Elends in der Welt und angesichts einer
Wirklichkeit, wie sie ist, von Gerechtigkeit, gar von Gottes Gerechtigkeit sprechen?
Verschlägt es uns da nicht die Stimm? Wie sollte unter diesen Umständen die göttliche
Gerechtigkeit eine bessere Gerechtigkeit sein? Jede Antwort auf diese drängende Frage hat
zunächst festzuhalten, dass auch der Glaube an Gottes Gerechtigkeit niemals das Bemühen
und Bestreben von Beseitigung und Überwindung von Ungerechtigkeit unter Menschen
ersetzen kann. Vielleicht ermöglicht der Glaube dieses Bemühen sogar auf seine Weise.
Glaube ist jedoch eine sehr persönliche Angelegenhit. So kann ich auch nur eine persönliche
Antwort geben auf das Verständnis von Gotte Gerechtigkeit. Seit dem Altertum wird
Gerechtigkeit erläutert durch die Formel: Suum cuique, jedem das Seine. Wohlgemerkt: Es
heißt das Seine, und nicht das Gleiche, auch nicht dasselbe, was ein anderer hat. Diese
Formel „Jedem das Seine“ kann missdeutet und missbraucht werden. Das ist häufig genug
geschehen. Dennoch: Das Seine – das betrifft einen jeden individuell und persönlich. Es
muss nicht alles, jede und jeder gleichgemacht werden, auch nicht im Glauben. Menschen
sind nun einmal nach Aussehen, Geschlecht, Herkunft, Biographie anders. Sie haben je eigen
Wünsche und Sehnsüchte, Sorgen und Ängste, Stärken und Schwächen, Fehler und
Fähigkeiten. Und genauso wie jeder nun einmal ist, so, wie ich bin, nimmt Gott uns ernst.
Darauf vertraue ich, daran halte ich mich. Gott trägt mich, selbst dann, wenn ich mich nicht
tragen, vielleicht sogar nicht ertragen kann. Und Gott achtet dabei auf das, was ich nötig
habe; auch das ist unterschiedlich, vielleicht muss mir eine Grenze gesetzt werden – ein
längst verstorbener Kollege sagte gelegentlich zu mir: Sie brauchen wieder einmal etwas
zwischen die Hörner. Vielleicht habe ich im Gegenteil eine Ermunterung und Ermutigung
dringend nötig. Das Verhältnis zu Gott ist und bleibt immer eine sehr persönliche Sache,
weil Gott mich so sieht, wie ich bin. Was bin ich, wie bin ich? Ich bin Geschöpf, Gottes
Geschöpf, also ein endliches hinfälliges Lebewesen. Und ich bin fehlbar, ich bin Sünder.
Was ein Sünder nötig hat, was ihm gerecht wird, ist vor Gott nicht eine gerechte Strafe,
sondern ist allein Barmherzigkeit, ist Gnade. Legt man den Maßstab einer gnadenlosen Welt
an, ist Gottes Gerechtigkeit nicht zu begreifen. Denn sie ist eine andre, eine bessere Gerechtigkeit." 

In der Hauptsache plädiert Honecker für eine pragmatische Betrachtung des Problems: jedem das Seine. Dies ist schwierig genug, denn entscheidend ist sehr weitgehend, und das spart Honecker aus, die genetische Vorgabe. Sie zieht die Grenzen, und diese sind auch für den Betroffenen nicht einfach zu erkennen. Er braucht dazu Rückmeldung und Beratung, und beides fällt meist irreführend aus, mit und ohne Vorsatz der Eltern, Lehrer, Kollegen und Vorgesetzten.