Mittwoch, 25. März 2015

Im alten Rom


Senecas Trostschrift an Marcia 

II. (1.) Ich weiß, daß Alle, die Einen ermahnen wollen, mit Lehren anfangen und mit Beispielen aufhören. Bisweilen [aber] ist es gerathen, diese Sitte zu ändern; denn mit dem Einen muß man anders verfahren, als mit dem Andern. Manche lassen sich durch Vernunftgründe leiten; Manchen muß man berühmte Namen entgegenhalten und ein Ansehen, das den Geist des durch blendende Erscheinungen Betroffenem nicht sich selbst überläßt. (2.) Zwei der größten Muster sowohl deines Geschlechts als deiner Zeit will ich dir vor Augen stellen, das eine einer Frau, die sich dem Zuge ihres Schmerzes hingab, das andere einer solchen, die, von gleichem Unfall und noch größerem Schaden betroffen, dennoch dem Unglück keine lange Herrschaft über sich gestattete, sondern ihr Gemüth schnell in seine [ruhige] Lage zurückversetzte. Octavia und Livia, jene die Schwester, diese die Gemahlin des Augustus verloren beide im Jünglingsalter stehende Söhne, beide in der sichern Hoffnung, daß sie einst Herrscher sein würden. (3.) Octavia den Marcellus, auf dessen Schultern sich der Oheim und Schwiegervater zu stützen, dem er die Last der Regierung aufzulegen begonnen hatte, einen Jünglinn feurigen Geistes und gewaltigen Talentes,[8] aber von einer bei solchem Alter und bei solchen Mitteln nicht wenig zu bewundernden Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung, Anstrengungen gewachsen, den Wollüsten abhold und bereit, Alles zu tragen, was der Oheim ihm auflegen und, mich so auszudrücken, auf ihn bauen wollte. Er hatte sehr gut einen Grund gewählt, der keiner Last nachgeben würde. (4.) Die ganze Zeit ihres Lebens hindurch machte sie ihren Thränen, ihren Seufzern kein Ende, und lieh keinen Worten ihr Ohr, die etwas Heilendes brachten. Nicht einmal davon abrufen ließ sie sich; [nur] auf den einen Gegenstand achtend und mit ganzer Seele daran gefesselt, blieb sie ihr ganzes Leben lang so, wie sie beim Begräbniß gewesen war, und geschweige, daß sie gewagt hätte, sich zu erheben, verschmähte sie es auch, sich aufrichten zu lassen, und hielt es für ein zweites Verwaistsein, sich der Thränen zu enthalten. Kein Bild des theuern Sohnes wollte sie besitzen, nie desselben Erwähnung gethan hören. (5.) Sie haßte alle Mütter und war besonders auf Livia wüthend, weil das ihr verheißene Glück auf deren Sohn übergegangen zu sein schien. Mit der Dunkelheit und Einsamkeit vertraut und selbst ihrem Bruder keinen Blick schenkend, verschmähte sie die zur Feier von Marcellus Andenken verfaßten Gedichte und andre Ehrenbezeigungen der Zuneigungen und verschloß ihre Ohren jedem Troste. Sich zurückziehend von den herkömmlichen Beileidsbezeugungen, und selbst das die Größe ihres Bruders allzusehr umglänzende Glück hassend, vergrub und verbarg sie sich. Während Kinder und Enkel bei ihr saßen, legte sie doch das Trauerkleid nie ab, nicht ohne Beleidigung für alle die Ihrigen, bei deren blühendem Leben sie sich doch verwaist vorkam.
III. (1.) Livia hatte ihren Sohn Drusus verloren, der ein großer Fürst geworden sein würde und bereits ein großer Feldherr war. Er war tief in Germanien eingedrungen, und die Römer hatten [unter ihm] ihre Fahnen da aufgepflanzt, wo es kaum bekannt war, daß es irgend welche Römer gebe. Auf[9] dem Feldzuge war er als Sieger gestorben, indem die Feinde selbst ihm in seiner Krankheit Verehrung und gegenseitige Friedfertigkeit bewiesen und nicht zu wünschen wagten, was ihnen [doch] frommte. Es begleitete seinen Tod, den er für den Staat erlitten hatte, das größte Bedauern der Bürgen, der Provinzen und ganz Italiens, durch welches, da alle Municipien und Colonien zu dem Trauerdienste herbeiströmten, seine Leiche fast wie in einem Triumphzuge bis in die Stadt geführt wurde. (2.) Der Mutter war es nicht vergönnt gewesen, die letzten Küsse des Sohnes und die lieben Worte des sterbenden Mundes aufzufangen. Eine weite Strecke hatte sie die irdischen Ueberreste ihres Sohnes begleitet, aber, obgleich durch so viele in ganz Italien brennende Scheiterhaufen so aufgeregt, als müßte sie ihn eben so oft verlieren, begrub sie doch, sobald sie ihn in den Grabhügel versenkte, mit ihm zugleich auch ihren Schmerz und trauerte nicht mehr, als es anständig war beim [Tode] eines kaiserlichen Prinzen oder gebührend [gewesen wäre] beim [Tode] irgend eines Andern. Ferner hörte sie nicht auf, den Namen ihres Drusus zu feiern, sich ihn überall zu Hause und öffentlich zu vergegenwärtigen, sehr gern von ihm zu sprechen und von ihm sprechen zu hören, da kaum irgend ein Mensch das Andenken an einen Andern bewahren und öfters erneuern kann, der es sich zu einem traurigen gemacht hat. – (3.) Wähle also, welches von[10] diesen beiden Beispielen du für lobenswerther halten willst: willst du dem ersteren folgen, so schließest du dich aus der Zahl der Lebenden aus; du wirst sowohl gegen andere Kinder, als gegen deine eigenen Abneigung fühlen und dich [blos] nach ihm sehend [allen] Müttern als eine [Erscheinung von] traurigen Vorbedeutung entgegen treten. Ehrbare und erlaubte Freunden wirst du, als nicht anständig genug für dein Geschick, zurückweisen, von einem dir verhaßten Leben wirst du festgehalten werden, erbittert gegen dein Alter, daß es dich nicht jählings vernichte und ein Ende machte, und was sehr schimpflich und deiner von einer bessern Seite bekannten Gesinnung ganz widersprechend ist, du wirst zeigen, daß du nicht leben magst und doch nicht sterben kannst. (4.) Hältst du dich [dagegen] an das letztere [viel] gemäßigtere und mildere Beispiel jener so großen Frau, so wirst du ohne Trübsal sein und dich nicht in Qualen abhärmen. Denn welch' ein Unsinn ist es, sich selbst für sein Unglücklich zu strafen und seine Leiden zu vermehren! Du wirst die Tüchtigkeit und Ehrbarkeit des Charakters, die du in deinem ganzen Leben behauptet hast, auch in diesem Falle bewähren. Selbst bei der Trauer über jenen Jüngling gibt es ein gewisses Maß; indem du immer von ihm redest, immer an ihn denkst, wird er dir die würdigste Ruhe verschaffen. Du wirst ihm eine höhere Stelle anweisen, wenn er seiner Mutter so, wie er es im Leben pflegte, heiter und mit Freude entgegen tritt. ...“
Seneca, Trostschrift an Marcia, anläßlich des Todes ihres Vaters Aulus Cremutius Cordus 31 in Rom, nach mutmaßlicher Verfolgung durch den Prätorianerpräfekten Sejanus; Text auf zeno.org